Laufzeitverlängerung: AKW-Weiterbetrieb nicht genehmigungsfähig – BUND legt aktuelle Studie zum Sicherheitszustand der laufenden Atomkraftwerke vor

28. Juli 2022 | Atomkraft

Der Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine stellt Deutschland vor große Herausforderungen bei der Energieversorgung. Aus der Debatte um Gasengpässe und kalte Wohnungen ist ein Szenario um einen drohenden Stromengpass geworden, in dessen Folge der Weiterbetrieb der verbliebenen Atomkraftwerke (AKW) debattiert wird. Die sicherheitspolitischen Fakten sind für die Befürworter eine vernachlässigte Randnotiz. Eine aktuelle Sicherheitsstudie im Auftrag des Bund für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND) zeigt, dass ein Weiterbetrieb aufgrund ungeklärter Sicherheitsfragen nicht genehmigungsfähig ist. Der Umweltverband lehnt den Weiterbetrieb und damit eine Laufzeitverlängerung der AKW Emsland, Neckarwestheim 2 sowie von Isar 2 über den 31. Dezember 2022 hinaus ab.

"Die Forderungen nach einem Weiterbetrieb der deutschen Atomkraftwerke sind populistisch. Energie aus Atomkraft ist unsicher, unrentabel und unnötig", erklärt Olaf Bandt, BUND-Vorsitzender. "Wer angesichts der drohenden Gasengpässe behauptet, nur mit Atomkraft einen warmen Winter ermöglichen zu können, führt eine Scheindebatte und rechnet die Leistungsfähigkeit der AKW schön. Sowohl die Opposition als auch die Regierungsparteien stellen leichtfertig den vor elf Jahren von einem breiten Konsens getragenen gesamtgesellschaftlichen Vertrag zum Atomausstieg zur Disposition. Damit riskieren sie auch die Verlässlichkeit und Tragfähigkeit langfristiger politischer Entscheidungen in diesem Land. Einige Grüne Politker*innen stellen mit ihrer Öffnung für verlängerte Atomlaufzeiten den Gründungskonsens der Grünen in Frage."

Am eigentlichen Sachverhalt hat sich seit dem Atomausstiegsbeschluss 2011 nichts geändert. Bandt weiter: "Atomkraft ist eine unberechenbare Hochrisikotechnik. Für die Energieversorgung spielt sie mit einem Anteil von etwa einem Prozent am Endenergieverbrauch weder kurz- noch mittelfristig eine wesentliche Rolle. Die bestehenden Sicherheitsrisiken bei einem Weiterbetrieb der drei AKW, die selbst die Betreiber nicht mehr tragen wollen, werden in der politischen Debatte auf sträfliche Weise missachtet." Aus Sicht des BUND stehen Sicherheitsrisiken und die Kosten für den Erhalt der geringen AKW-Kapazitäten in keinem Verhältnis. Daran ändert auch ein erneuter Stresstest nichts.  

Deutschland hat den Ausstieg aus der Atomenergie 2011 aufgrund der unberechenbaren Sicherheitsrisiken beschlossen. Die AKW sind heute elf Jahre älter und haben allesamt eine Betriebsdauer von 30 Jahren weit überschritten. Oda Becker, Diplom-Physikerin und Expertin für Risiken von Atomanlagen, führt mit Verweis auf eine für den BUND erstellten aktuellen Sicherheitsstudie aus: "Die AKWs Emsland, Neckarwestheim 2 und Isar 2 sind seit 13 Jahren nicht mehr umfänglich sicherheitstechnisch überprüft worden. Die letzte periodische Sicherheitsprüfung, die mindestens alle 10 Jahre erfolgen, fand 2009 und nach einem Sicherheitsanforderungen aus den 1980er Jahren. Dass die Atomaufsicht auf dieser Basis Laufzeitverlängerungen ohne umfassende Sicherheitsüberprüfungen genehmigt, ist aus fachlicher Sicht nicht vorstellbar. Denn ein sicherer Betrieb der Reaktoren nach dem aktuellen Stand von Wissenschaft und Technik ist nicht gewährleistet." Mit Blick auf die AKW Emsland und Neckarwestheim 2 fügt Becker an: "Die Anlagen wurden seit mehr als 10 Jahren in Hinblick auf die vereinbarten Restlaufzeiten betrieben, das zeigt sich zum Beispiel an dem Umgang an den gefährlichen Rissen in den Dampferzeugern im AKW Neckarwestheim 2."

Der Weiterbetrieb der AKW wäre nicht nur aufgrund langfristiger und aktuell nicht verfügbarer Brennelemente, sondern auch durch die massiven Sicherheitsrisiken nicht zielführend. "Selbst die Betreiber stellen fest, dass auch ein kurzer Weiterbetrieb nur möglich wäre, wenn der Anspruch an Sicherheitsprüfungen massiv verringert oder umfangreiche Nachrüstungen nicht vorgenommen werden. Die aktuelle Situation in Frankreich belegt zudem, dass die angestrebte Versorgungssicherheit mit Atomkraftwerken nicht gewährleistet ist", führt die Sicherheitsexpertin weiter aus. 

In der aktuellen Auseinandersetzung rächt sich jetzt, dass jahrzehntelang auf fossile Brennstoffe gesetzt wurde und der Ausbau der Erneuerbaren Energien vernachlässigt oder verhindert wurde. Angela Wolff, BUND-Expertin für Atom- und Energiepolitik, erklärt: "Diese Debatte ist der letzte verzweifelte Versuch von CDU und CSU, die Atomenergie in Deutschland am Leben zu halten. Die Unionsparteien haben die Energiewende jahrelang massiv blockiert und Deutschland mit ihrer reaktionären Energiepolitik weiter in die fossile Abhängigkeit gedrängt. Und auch jetzt in der Krise fällt den beiden Parteien nichts Besseres ein als der energiepolitische Rückwärtsgang. Dabei können die AKW weder die Gaskrise lösen, noch spielen sie mit einem Anteil von insgesamt lediglich fünf Prozent im Strommix eine wesentliche Bedeutung für die Stromversorgung."

Aktuell produzieren die deutschen AKW ihren Strom rechnerisch allein für den Export nach Frankreich, wo seit etwa einem halben Jahr die Reaktorflotte stillsteht. Dort zeigt sich das ganze energiepolitische Dilemma der Atomkraft-Nutzung. "Atomkraft bietet weder Versorgungssicherheit noch schafft sie Energieunabhängigkeit von Russland", so die BUND-Expertin weiter. "Vielmehr hat die verstaatlichte russische Atomindustrie Europa und die USA als Lieferant von Uran und Nukleartechnik so fest im Griff, dass diese es sich bislang nicht leisten konnten, im Atomsektor Sanktionen gegen den Aggressor zu verhängen."

Der BUND fordert einen konsequenten und naturverträglichen Ausbau der Erneuerbaren und schnelle sowie sinnvolle Energiesparmaßnahmen. Bandt: "Es wäre fatal, wenn sich die Bundesregierung in dieser schweren Krise weiter von einer populistisch geführten Debatte antreiben lässt und damit nicht nur wichtige Maßnahmen verpasst, sondern auch die energiepolitische Zukunft Deutschlands aufs Spiel setzt. Sicherheit, Frieden und eine zuverlässige Energieversorgung sind nur mit einem Schritt nach vorn erreichbar. Dazu müssen wir Atomkraft und fossile Brennstoffe so schnell wie möglich hinter uns lassen. Das Atommüll-Problem ist nach wie vor ungelöst. Das laufende Suchverfahren für eine dauerhafte Lagerstätte für die Jahrtausende lang gefährlichen hochradioaktiven Abfälle wird mit dieser sinnlosen Debatte um Laufzeitverlängerungen aufs Spiel gesetzt. Der BUND wird eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten nicht tatenlos hinnehmen und rechtliche Schritte prüfen."

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