Sind Privatwagen in der Stadt noch zeitgemäß?

19. September 2019 | Mobilität, Nachhaltigkeit, Ressourcen & Technik, Suffizienz, Umweltgifte, Klimawandel, Energiewende

Noch nie stand die Autoindustrie derartig in der Kritik. 25.000 Menschen protestierten zum Auftakt der Internationalen Autoausstellung für eine rasche Verkehrswende, um das Weltklima zu retten. Und dagegen, dass speziell die deutschen Autokonzerne weiter viel zu schwere, zu große und zu leistungsstarke Modelle entwickeln. Der BUND war in Frankfurt mit vielen Aktiven dabei. Und fordert grundsätzlich, den städtischen Autoverkehr zu verringern und all jenen mehr Platz einzuräumen, die sich umweltfreundlich fortbewegen.

IAA-Demo am 14.9.2019 in Frankfurt a.M.  (Niko Martin)

Von Haidy Damm

Pünktlich zur Internationalen Automobilausstellung 2019 verschickte der Autobauer Jaguar Werbung für seinen neuen SUV und spart darin nicht mit Superlativen: eine Ikone, eine Legende. Dabei sprechen die technischen Daten eine andere Sprache: knapp 2,3 Tonnen schwer, fünf Meter lang, zwei Meter hoch, Dieselmotor, über 200g/km CO2-Ausstoß. Eher ein automobiler Dinosaurier, der besser heute als morgen vom Markt genommen gehört.

Doch noch sind Sportgeländewagen die Hoffnung der kriselnden Autoindustrie. Im August dieses Jahres kauften die Deutschen erstmals mehr SUV als jeden anderen Fahrzeugtyp. Dieser Trend – laut Kraftfahrt-Bundesamt verantwortlich für den nicht sinkenden CO2-Ausstoß – trifft auch Berlin.

Wem gehört der Platz in der Stadt?

Linienstraße in Berlin Mitte, eine Fahrradstraße. Jeden Morgen zwängen sich hier überwiegend SUV aneinander vorbei, um vor der Schule die Zöglinge auszuspucken. Sie blockieren die Fahrbahn für Radfahrer*innen, Fahrradstraße hin oder her. Beim Parken wieder ein Platzproblem: Die großen Autos brauchen oft mehr Fläche, als ein genormter Stellplatz bereithält.

Die von parkenden Autos beanspruchte Fläche ist schon so ein Problem: Statistisch steht ein Auto etwa 23 Stunden am Tag herum und blockiert dabei rund zehn Quadratmeter. Zehn Fahrräder könnten dort parken. Oder fünf Blumenkübel plus Bänke für die Nachbarschaft stehen. 

"Wer allerdings in einer deutschen Stadt das Ende des freien Parkens privater Autos diskutieren möchte, wird angesehen wie jemand, der die Gesetze der Thermodynamik in Frage stellt", schreiben die Herausgeber des Buches "Erloschene Liebe? Das Auto in der Verkehrswende". Hier geht es auch um soziale Gerechtigkeit: Obwohl über 40 Prozent der Berliner Haushalte ohne Auto leben, werden enorme öffentliche Flächen sehr günstig oder gleich ganz kostenfrei für private Pkw reserviert.

Eine Frage des Einkommens

Überhaupt ist Autofahren in Deutschland auch eine Frage des Einkommens: Laut Statistischem Bundesamt gibt es in 100 Haushalten unter 1.700 Euro Nettoeinkommen 46 Autos, gegenüber 196 Autos bei Einkommen über 5.000 Euro. Hinzu kommt, dass ärmere Menschen stärker von schlechten Luftwerten betroffen sind. "Auf dem Weg zur Arbeit sind es die SUV der Reichen, die sich durch die Quartiere der Abgehängten schieben, die dann deren Emissionen einatmen", schreiben die Autoren in einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung. Wer morgens regelmäßig dem Berliner Verkehrsfunk lauscht, kann die tägliche Litanei schon nach kurzer Zeit mitsprechen. Zwar brauchen auch die Zug-Pendler*innen aus dem Berliner Umland manchmal gute Nerven. Doch wer zählt die Stunden, die Autofahrer*innen sinnlos im Stau stehen?

Rund ein Viertel der CO2-Emissionen geht in Berlin auf den Verkehr zurück. Dazu kommt die Belastung durch Feinstaub und Stickstoffdioxid. Ebenfalls nicht zu unterschätzen: die Lärmbelästigung. Ein Argument für Tempolimits – das menschliche Ohr nimmt Straßenverkehr bei Tempo 50 doppelt so laut wahr wie bei 30 km/h.

Mehr Fahrradwege

Neukölln, Karl-Marx-Straße: Breite grün abgesetzte Fahrradwege und Parkverbote machen einen Weg, der früher für Radfahrer*innen die Hölle war, zu einem Fahrvergnügen. Mehr davon! Denn es gibt noch viel zu viele Gründe, nicht aufs Rad zu steigen. Der größte Stressfaktor sind Autos, die mit zu wenig Abstand überholen. An zweiter Stelle kommen zugeparkte Radwege, und solche, die plötzlich im Nichts enden. Wer zu Fuß läuft, fühlt sich von Autos wie Radfahrer*innen schikaniert, wenn Gehwege nicht konsequent geschützt werden. Die Politik muss sich deutlich mehr als bisher um die kümmern, die umweltfreundlich ohne Auto unterwegs sind. Ein Mobilitätsgesetz des Berliner Senats soll die Lage nun gründlich verbessern – ist aber noch nicht ansatzweise wirksam geworden.

Andere machen es vor: Kopenhagen und Amsterdam investieren seit vielen Jahren in den Radverkehr – ein Mehrfaches dessen, was Berlin bislang pro Einwohner*in ausgibt. Mit Erfolg: In Kopenhagen ist der Anteil des Radverkehrs auf 29 Prozent, in Amsterdam auf 32 Prozent gestiegen. Die 15 Prozent in Berlin erscheinen da sehr ausbaufähig.

Mehr Mittel für Bus und Bahn

Mit einem 365-Euro-Ticket hat Berlins Bürgermeister Michael Müller im medialen Sommerloch gekonnt ein Thema gesetzt. Zuvor hatten mehrere Kommunen Modellprojekte für einen kostenlosen Öffentlichen Nahverkehr abgelehnt. Eine Begründung war, es gäbe gar nicht genug Busse und Bahnen. Höchste Zeit also für eine Investitionsoffensive in den öffentlichen Nahverkehr! Wer in Berlin jederzeit mit einem günstigen Jahresticket in Tram, Bus oder S-Bahn steigen kann, wird sich überlegen, sein Auto abzuschaffen. Und wer halbstündig aus dem Umland per Regionalbahn ins Stadtzentrum kommt, wird sein Auto künftig am nächsten Bahnhof stehen lassen, statt sich durch immer mehr Stau zu quälen.

Langfristig wird eine lebenswerte, klimafreundliche und nachhaltige Stadt nur mit weniger Autos möglich sein. Geschichtlich gesehen hat der Autoverkehr in Deutschland übrigens erst Ende der 1950er Jahre seinen Durchbruch erlebt. Nicht zufällig, sondern herbeigeführt von einer "langanhaltenden Interessengemeinschaft von Industrie, Staat und Kundschaft", wie es in "Erloschene Liebe" heißt. Dem Siegeszug des Autos haben also verkehrspolitische Entscheidungen den Weg bereitet. Dieser Weg hat sich als Sackgasse herausgestellt. Damit Städte und Gemeinden nicht am Verkehr ersticken, ist nun wieder die Verkehrspolitik gefragt. Rasch umdenken müssen auch die Autoindustrie und der ADAC. Das Auto als Ikone gehört der Vergangenheit an.

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