Revolution für das Gute Leben: Göteborg wagt das 30-Stunden-Experiment

27. Oktober 2015 | Klimawandel, Suffizienz, Nachhaltigkeit

Liebe Leserin, lieber Leser! Fühlen Sie sich auch oft schlapp? Gehetzt, durch die Woche getrieben? Und am Wochenende wollen der Haushalt geschmissen, "quality time" mit der Familie verbracht, Freunde verarztet und Hobbys gepflegt werden? Sie kennen das Gefühl, keine Zeit für gar nichts zu haben? Was, wenn man ihnen jetzt noch sagte, sie würden durch dieses weltrekordverdächtige Leben vehement zum Klimawandel beitragen? Wie bitte? Und das man in schwedischen Kommunen jetzt etwas dagegen unternimmt? Seien Sie nicht ungläubig. Lesen Sie einfach weiter. Denn Göteborg macht’s vor, mit seinem 30-Stunden-Experiment.

Einfach mal entspannen; Foto: Pezibear / CC0 / pixabay.de Einfach mal entspannen!

Von Jan Korte

"Wenn wir den Klimawandel wirklich ernsthaft bekämpfen wollen, brauchen wir eine Revolution im Arbeitsleben" – das sagt nicht etwa ein technikbegeisterter Verfechter grünen Wachstums und Green Economy-Fan, der auf ein Öko-Jobwunder setzt. Nein, das meint Naomi Klein, bekannte US-amerikanische Klima-Aktivistin. Sie sieht die seit einigen Jahren auch hier in Deutschland verstärkt diskutierte Idee der Arbeitszeitverkürzung als probates Mittel in eine gerechte, schönere, kohlenstoffarme Gesellschaft.  Und das nicht von ungefähr – schließlich sind Burnout, Überstunden, Stress und psychosomatische Erkrankungen bei den einen; Unterbeschäftigung, Minderwertigkeitsgefühle durch Arbeitslosigkeit, Niedriglöhne oder miserable Arbeitsbedingungen bei den anderen im 21. Jahrhundert bei uns an der Tagesordnung. Überall also Krisen: Klimakrise, Gerechtigkeitskrise, Lebenskrise. 

Im Teufelskreis zwischen Überarbeitung, Konsum und unbefriedigten Bedürfnissen

Da genau setzt Klein an und beschreibt den Teufelskreis, aus dem man nur so schwer ausbrechen kann: "Überarbeitung ist unverrückbar mit einem Modell des verschwenderischen Konsums verknüpft. Nach der Arbeit hat man für nichts mehr Zeit, außer vielleicht noch auf dem Nachhauseweg sich etwas fürs Abendessen mitzunehmen" -  das "dinner to go" wird dann hastig und apathisch in sich hineingeschaufelt. So bleibt keine Zeit für weniger ressourcenverschwenderische Aktivitäten, wie Kochen oder Lesen.

Eine Prise Suffizienz für mehr Zeitwohlstand

Eine Prise Suffizienz, verbunden mit der Rückbesinnung auf unsere ureigensten Bedürfnisse kommt hier genau richtig. Allerdings hatte es die Arbeitszeitverkürzung - in den 1980er Jahren eine prominente Forderung der Gewerkschaften – als politisches Projekt in den letzten Jahren hierzulande nicht immer leicht. Zuletzt wurde die "Kurze Vollzeit" u.a. in der Studie "Zukunftsfähiges Deutschland in einer globalisierten Welt" von BUND und Brot für die Welt prominent diskutiert. Beachtung erhielt das Thema auch letztes Jahr mit einem offenen Brief von Bundestagsabgeordneten, Professorinnen, Unternehmern und anderen. Doch wie so oft müssen wir zu unseren skandinavischen Nachbarn blicken, um gesellschaftlichen Fortschritt in der Praxis zu beobachten. Der Zeitwohlstand hat’s leichter im Norden.

Göteborg will's zeigen

"Wir wollen, dass Göteborg dem Rest Schwedens einen Fingerzeig darauf gibt, dass man den Arbeitstag auf sechs Stunden verkürzen kann", sagt Mats Pilhelm, Kommunalrat für Beschäftigungsfragen in Schwedens zweitgrößter Stadt Göteborg. Und in einem städtischen Altenheim wird die Revolution für das Gute Leben losgehen: 20 bis 30 zufällig ausgewählte Mitarbeitende sollen dann ein Jahr lang nur noch sechs statt acht Stunden pro Tag arbeiten. Ihr Gehalt bleibt dabei gleich, obwohl sie "nur noch" eine 30-Stunden-Woche haben werden. "Einige Unternehmen in Schweden haben schon von einem Acht- auf einen Sechsstundentag umgestellt und damit sehr gute Erfahrungen gemacht", sagt er. Die Mitarbeiter seien seltener krank und würden generell effizienter arbeiten. Das wolle man nun auch in der Stadtverwaltung ausprobieren. Gerade in Altenheimen sei das Pflegepersonal engagiert, aber auch völlig überarbeitet – Leidtragende seien am Ende die Heimbewohnerinnen und -bewohner.

Neu ist die wissenschaftliche Auswertung des Pilotprojekts

Experten wie Thomas Rigotti, Arbeitspsychologe an der Uni Mainz, warnen derweil davor, dass oft die gleiche Arbeit einfach in weniger Zeit verrichtet werden müsse. Dies führe dann häufig zu Zeitdruck, Stress, Burnout. Auch der Kommunalrat Mats Pilhem in Göteborg räumt ein, dass man die Arbeitsbelastung selbstverständlich an die kürzere Arbeitszeit anpassen müsse.

Doch das ist ohnehin vorgesehen. Pilhem gehe es bei seinem Pilotprojekt nicht allein um mehr Produktivität und lange freie Wochenenden für diejenigen, die einer Beschäftigung nachgehen. Das Ganze sei auch eine gesellschaftliche Verteilungsfrage, so der schwedische Kommunalpolitiker von der Linkspartei (Vänsterpartiet): "Eine Reform, bei der die Wochenarbeitszeit sinkt, würde die vorhandene Arbeit gerechter auf die gesamte Bevölkerung verteilen und die Arbeitslosigkeit sinken lassen“. Für das Projekt wurden im städtischen Haushalt mittel von 550.000 Euro bereitgestellt, um neue Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einzustellen. Man wolle das Experiment umfassend wissenschaftlich begleiten, Interviews mit Lang- und Kurzarbeitenden führen und vergleichen. Diese wissenschaftliche Auswertung fehlte nämlich beim Vorreiter, der nordschwedischen Kleinstadt Kiruna, die die kommunale Arbeitszeitverkürzung eingeführt und kurz danach wieder abgeschafft hatte.

Pilhem  weiß, dass er die Daten braucht. Denn um alle 50.000 Beschäftigungsverhältnisse in Göteborg auf eine 30-Stunden-Woche umzustellen, bräuchte es mehr als die 550.000 Euro für sein Experiment. Viel mehr.

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