Pflücken erlaubt – wie Andernach zur essbaren Stadt wurde

30. Januar 2015 | Nachhaltigkeit, Suffizienz, Landwirtschaft

Andernorts steht an städtischen Grünanlagen "betreten verboten" – in der Stadt Andernach dagegen werden Bürgerinnen und Bürger zum Betreten sogar eingeladen: "Pflücken erlaubt".

Pflanzaktion in Andernach; Foto: Stadtverwaltung Andernach Pflanzaktion in Andernach  (Stadtverwaltung Andernach)

Von Lutz Kosack

Wo früher Tulpen und Rosen wuchsen, werden jetzt auf städischem Rasen Tomaten und Salat angebaut. Menschenleere Grünanlagen gehören seitdem in Andernach der Vergangenheit an. Und nicht nur das: Die kleine Stadt leistet nebenbei noch einen wichtigen Beitrag zum Erhalt der Biodiversität. Denn an der alten Stadtmauer werden jetzt 101 traditionelle Tomatensorten angepflanzt, die sich bei uns fast nicht mehr finden.

Eigentlich sind öffentliche Grünanlagen für alle da. Aber zu oft sehen Bürgerinnen und Bürger sie nur als Fläche der Kommune - und nicht als ihre Flächen, als Flächen der Bürgerschaft.

Die Stadt Andernach erfindet sich deswegen als grüne und nachhaltige Stadt mit ihrem Projekt "Essbare Stadt" gewissermaßen neu. Wichtig hierbei: Aspekte der Nachhaltigkeit, der Biodiversität und der urbanen Landwirtschaft in öffentlichen Grünanlagen.

Geschichten aus 101 Tomatensorte

Mit der Anpflanzung von öffentlichen Gemüsebeeten, die nicht nur für jedermann zugänglich sind, sondern auch von allen Bürgerinnen und Bürgern beerntet werden können, geht die Stadt am Mittelrhein mit 30.000 Einwohnern neue Wege. Kreative Konzepte wurden entwickelt, um mit "Nutzpflanzen" solche Flächen für die Menschen wieder erlebbarer zu gestalten.

Um nicht nur auf die Bedeutung von Wildarten, sondern auch auf die Gefahr des Aussterbens traditioneller Nutzpflanzen hinzuweisen, haben wir unmittelbar an eine alte Mauer im Graben ein Tomatensortenprojekt angelegt. 101 Sorten wurden angebaut und beschildert. Die Akzeptanz dieses Projektes konnten wir dadurch massiv steigern, dass alle Andernacherinnen und Andernacher in diesem entstandenen Bürgergarten eigenständig ernten dürfen. Neben den Tomaten wurden  weitere Gemüsesorten (z.B. Mangold), Obstsorten (Beerenobst, Spaliergehölze), Küchenkräuter oder auch Schnittblumen angebaut. Und statt "Betreten verboten" heißt es plötzlich "Pflücken erlaubt". Ein ganz neuer Wahrnehmungsraum entsteht.

Im Zuge des Projektes diskutierte die Stadtgesellschaft insbesondere zu Beginn der Kampagne auch die Gefahr des Vandalismus. Letztendlich blieb der befürchtete Vandalismus aus und die Bedenken konnten aus dem Weg geräumt werden.

Säen, Wachsen, Ernten: 2014 war das Jahr der Erdbeere

Mit der Neugestaltung der Grünanlagen erlebt die Stadt den Wechsel der Jahreszeiten wieder bewusster, ebenso wie das Säen, Wachsen und Ernten, welches in der Stadt so häufig fehlt. Das Projekt erwies sich als ausgesprochen kommunikativ. So wurden interkulturelle Begegnungsflächen geschaffen, wo sich Bürger zum Thema Gartenbau und Ernährung austauschen konnten.

Jedes Jahr wird eine Gemüseart in den Mittelpunkt des Interesses gestellt. Während 2010 das Jahr der Tomate war, standen in den darauffolgenden Jahren Bohne, Zwiebel und Kohl im Mittelpunkt. 2014 konzentrierten wir uns auf die Erdbeere. Die Möglichkeiten der Gestaltung mit Pflanzen wurden enorm ausgeweitet. Hier möchten wir auf kleineren Flächen die Artenvielfalt im wahrsten Sinne des Wortes begreifbar zu machen:  Biodiversität kann geschmeckt, gefühlt, gerochen und somit erlebbar gemacht werden.

Gärten für alle

Gepflegt werden die Flächen durch die Perspektive gGmbH, der örtlichen Beschäftigungs- und Qualifizierungsgesellschaft für Langzeitarbeitslose. Zunehmend sollen aber auch die Bürger selbst mit Verantwortung für die städtischen Garten übernehmen.

Abschließend möchte ich noch darauf hinzuweisen, dass ein Umdenken hinsichtlich des kommunalen Grüns mit einer Vielzahl an Bedenken und Vorbehalten behaftet ist. Häufig wurde in Andernach nach ausgearbeiteten Kostenplänen und Stadtratsvorlagen gefragt. Unsere Erfahrungen zeigen vielmehr, dass nicht der Kostenrahmen und der politische Raum ausschlaggebend sind, sondern die Kreativität und der Mut der lokalen Akteure, neue Wege zu gehen.

Zum Autor

Dr. Lutz Kosack ist Geoökologe. Nach langjähriger Beschäftigung in Ingenieurbüros ist er seit 2001 als Landschaftsplaner bei der Stadtverwaltung Andernach angestellt. Hier kümmert er sich um Aufgaben der Eingriffsregelung, kommunalen Naturschutz und die Grünflächenplanung.

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